Athos (agion oros)
Wer einmal in eine ganz andere, noch nahezu mittelalterliche Welt eintauchen möchte, dem empfehle ich den Besuch der Mönchsrepublik Athos, auf dem nördlichen Finger der Halbinsel Chalkidike. Sie wird von den Griechen aber nur „agion oros“, also „Heiliger Berg“ genannt. Natürlich hat man es mit griechischen Sprachkenntnissen dort etwas leichter. So konnte ich für mehrere Tage in ein und demselben Kloster, dem „megisti lavra“ übernachten, was normalerweise nicht erlaubt ist und hatte dort und in der „Hauptstadt“ Karies (1) auch die Gelegenheit zu längeren Gesprächen. Selbst als Grieche hat man offiziell nur wenige Tage Aufenthaltserlaubnis, was man bei der Ausreise aber praktisch nicht überprüft. Es gibt in der Umgebung von Karies übrigens eine Menge leer stehender Häuser, die von Griechen oder anderen Orthodoxen anscheinend „wild“ bewohnt werden.
Trotz der sehr ansprechenden Umgebung, die bergige Insel ist ja geprägt von Urwäldern und wilder Macchia, sowie der imposanten, festungsartigen Architektur der Klöster, sollte man sich das Leben eines einfachen Mönches nicht allzu „romantisch“ vorstellen. Im Grunde ist es unwirklich hart. Praktisch die Hälfte des Jahres wird gefastet. Auch in der übrigen Zeit ist die von den Klöstern ausgegebene Kost nicht gerade üppig. Man kann ja nicht einfach zum nächsten Kiosk oder Supermarkt latschen, um sich etwas zu kaufen. Höchstens in der „Hauptstadt“ Karies gibt es einige, kleine Geschäfte. Hinzu kommt, daß die Mönche über keinerlei festes Einkommen verfügen. Dieses „Problem“ wurde mir gegenüber immer wieder als sehr schwerwiegend und dringend angesprochen. Der sehr geringe „Komfort“, die unzureichende Heizung im durchaus kalten Winter Nordgriechenlands, sowie der allgemeine Zustand der sanitären Anlagen gestalten den Aufenthalt auch nicht gerade „luxuriös“.
Das Ziel dieser lebenslangen Drangsale ist eine allgemeine Bedürfnislosigkeit, ja Seligkeit, bis hin zu einer mystischen Selbst-Entrücktheit, ja völligen „Selbstvergessenheit“! Darin unterscheidet sich der Athos von fernöstlich-buddhistischen Lehren wohl kaum. So findet sich auch nirgends ein Spiegel, nichts, in dem man sich selbst betrachten kann. Niemals habe ich einen Fernseher gesehen. Inzwischen besitzen viele Mönche jedoch Internet oder zumindest ein Smartphone. Man sollte sie sich als allgemein gut informiert vorstellen. Alles andere als „weltfremd“, haben sie auch zu politischen Dingen fast immer eine eigene, kritische Meinung, die von dem, was wir „mainstream“ nennen, verständlicherweise sehr abweicht.
Mit jener mystischen Grundausrichtung des Athos hängt es zusammen, daß dort niemals ein Begräbnis stattfindet, noch findet sich ein Grab oder gar Friedhof. Es gibt ja gar keinen Grund zu trauern. Den Athos beherrscht im Grunde die Christologie des Paulos, die man sehr ernst nimmt, ja auf eine unheimliche Weise wortwörtlich. Man kennt aus dem Neuen Testament eigentlich nur seine Briefe, das Evangelium des Johannes und vor allem die Apokalypse, die man sich von einem Griechen geschrieben vorstellt.
Die an sich schon abgründige, paulinische Christologie, die im Leben kaum mehr als den Weg zum sinnerfüllenden Tod sieht, wird am Athos noch fast überhöht. Der Mönch ist mit dem Tode „verheiratet“. Der Tod ist seine eigentliche Braut und Geliebte, die all seine Begierden doch schließlich erfüllt. Daher kann die Begräbniszeremonie im eigentlichen Sinne auch getrost entfallen. Nach der Verwesung des Körpers, die wegen der großen Hitze im Sommer schon nach wenigen Jahren geschieht, werden die Glieder, sowie der Schädel wieder ausgegraben, säuberlich mit Rotwein gewaschen, abgetrocknet, zu einem Bündel geschnürt, um dann jedoch mit dem Namen des Mönches versehen, sehr sorgfältig in einem Ossarium aufbewahrt zu werden. Somit steht der Leib und damit die eigentliche Person bereit für die „defteri parousia“, dem Wiedererscheinen Jesu auf dieser Welt; ein Vorgang, welcher ihr eigentlich erst den vollen Sinn verleiht. Martin Luther nennt es, die Perspektive allerdings in den juristischen Bereich verschiebend, das „Jüngste Gericht“. Die meisten sogenannten „Christen“ haben ja längst schon vergessen, dass es sich beim Christentum um keine „Wohlfühl“ oder gar „Gott hat dich lieb“ Religion handelt, sondern um eine reine Erlösungsreligion. Hier geht es auch nicht unmittelbar um „Sünde“. Um den seligen Zustand der absoluten Erlösung zu erreichen, muß der Mönch aus sich selbst aktiv werden und wohl auch eine gewisse Bereitschaft mitbringen, Qualen zu erdulden.
Diesen hohen Erwartungen sind aber längst nicht alle gewachsen. So mancher Mönch, der sich wohl eher am spirituellen „Wegesrand“ befindet, droht innerlich zu zerbrechen. Wenn sich der erhoffte Zustand einer allgemeinen Seligkeit nämlich nicht einstellt, mit zunehmenden Alter jedoch die Rückkehr in die „normale“ Welt immer unmöglicher wird, kann sich durchaus eine große Frustration einstellen. Im „normalen“ Leben hat der Mönch ja irgendwann alle Chancen unwiderruflich verpaßt. Die völlige materielle Verarmung ist ja auch nicht für jeden gleich erträglich. Während ich mich im Freien, außerhalb des Klosters, mit einigen griechischen Pilgern unterhielt, wir etwas tranken und uns ein wenig „amüsierten“, weinte ein Mönch bei unserem Anblick ganz bitterlich. Die Griechen schien dies nicht zu berühren. Noch hier und dort habe ich ähnliche, leicht verstörte Minen getroffen.
Und trotzdem: Die sich über Stunden hinziehenden gemeinsamen Mahlzeiten mit den Mönchen zählen für mich zu den nachhaltigsten Eindrücken meines gesamten Lebens. Ganz magisch von einer Stimme begleitet, die seltsam monoton singend aus dem Lektionar vorliest; in sehr altem, sehr ehrwürdigem, fast unheimlich-düsterem Ambiente zelebriert; mit größter Würde jedoch, ja noch ganz selbstverständlichem Stolz, in echtem, tief verwurzelten Glauben vorgetragen und wirklich gelebt …
Wenn ich dann noch mein ganz persönliches Fazit ziehen darf, so müßte ich trotzdem wohl etwas ernüchternd sagen, daß jemand, der an regelmäßige und wesentlich reichhaltigere Kost gewöhnt ist, auf dem Heiligen Berg wohl schlichtweg verhungern müßte. Man würde wohl kaum einen Winter überleben. In der „megali hebdomada“, dem Höhepunkt des Fastens vor Karfreitag auf dem Athos angekommen, blieb es dort kalt und sehr ungemütlich. Wie glücklich ich war, zuvor in Karies (1), der „Hauptstadt“, wenigstens noch eine große Flasche Ouzo gekauft zu haben. Sie brachte zwar nicht die erhoffte „Erleuchtung“, wärmte jedoch sehr angenehm und half beim Einschlafen in den klamm-kalten Räumen.
(1) Nicht wie unsere Zahnkrankheit, sondern auf dem hinteren i betont.